Was ist das Nervensystem und warum spricht das ganze Internet darüber?
Falls du in letzter Zeit auf Instagram oder TikTok unterwegs warst, hast du bestimmt auch öfter mal vom Nervensystem oder Nervensystem-Regulation gehört. Häufig geht es in solchen Posts darum, wie du dein Nervensystem wieder in Einklang bringen kannst oder welche Dinge du besser vermeidest, um dein Nervensystem zu schützen.
Was dabei jedoch häufig zu kurz kommt, ist eine Erklärung, um was es sich bei dem Nervensystem überhaupt handelt und warum es im Kontext mentaler und körperlicher Gesundheit so wichtig ist.
Let’s talk about it.
Was genau ist dieses Nervensystem überhaupt?
🧠 Der eher trockene wissenschaftliche Teil
Wenn auf sozialen Medien vom Nervensystem gesprochen wird, geht es meistens um das autonome Nervensystem. Das autonome Nervensystem ist so etwas wie das elementare Überlebenssystem unseres Gehirns. Es besteht aus zwei Hauptzweigen: dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Beide steuern die Aktivierung im ganzen Körper.
Der Sympathikus setzt Botenstoffe wie Adrenalin frei und bringt Körper und Gehirn in Handlungsbereitschaft. Der Parasympathikus unterstützt Funktionen wie Verdauung, Wundheilung sowie Schlaf- und Traumzyklen. Beide Zweige arbeiten eng zusammen und halten uns idealerweise in einem optimalen Aktivierungszustand.
Diese Zusammenarbeit findet bei jedem einzelnen Atemzug statt: Beim Einatmen wird der Sympathikus aktiviert und die Herzfrequenz steigt. Beim Ausatmen wird der Parasympathikus aktiviert und die Herzfrequenz sinkt. Das ist übrigens auch der Grund, warum viele Atemübungen auf eine verlängerte Ausatmung setzen. Dadurch wird der Körper nämlich in einen Zustand der Beruhigung gebracht.
Warum ist Nervensystem-Regulation wichtig?
💜 Die praktische Umsetzung
Wenn dein System im Gleichgewicht ist, also Sympathikus und Parasympathikus zum jeweils richtigen Zeitpunkt anspringen, kannst du in Momenten von Frust oder Enttäuschung meist gefasster reagieren. Du kannst vielleicht eher kurz innehalten, die Situation reflektieren und besonnener und ruhiger handeln.
Ist dein Nervensystem dagegen aus dem Gleichgewicht, also dein Sympathikus „überaktiviert“, reagierst du tendenziell eher impulsiv, defensiv oder (passiv-)aggressiv. Eine anhaltend dysregulierte Nervensystemaktivität erhöht außerdem das Risiko für diverse körperliche Probleme, z.B. in Bezug auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auf die Immunabwehr. Auch die Wahrscheinlichkeit, psychisch zu erkranken, steigt dadurch.
Ein dysreguliertes Nervensystem zeigt sich unter anderem als:
- erhöhte Reizbarkeit
- Niedergeschlagenheit oder Hoffnungslosigkeit
- Anhaltende Angst, innere Unruhe oder Gedankenkarussell
- Schlafprobleme (Einschlaf-/Durchschlafstörungen)
- Anhaltende Müdigkeit oder Erschöpfung
- „Freeze“-Reaktionen bei Überforderung (Blackout, inneres Abschalten, übermäßiges Anpassen/People-pleasing)
- Körperliche Signale wie z.B. Muskelverspannungen, Kopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden und erhöhter Herzschlag
- „Brain Fog“, Konzentrationsschwierigkeiten oder ausgeprägte Schreckhaftigkeit
Ok verstanden, wir sollen unser Nervensystem regulieren. Aber wie?
Nervensystem-Regulation bedeutet, deinem Körper einerseits ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln und gleichzeitig flexibel zwischen Aktivierungszuständen wechseln zu können, wenn die Situation es erfordert. Somatische Übungen sind einfache, körperbasierte Tools, die deinem Körper genau das beibringen. Zu somatischen Tools zählen zum Beispiel das sogenannte Grounding über die Sinne, aber auch Atemübungen mit Fokus auf die Ausatmung, sanfte Körperbewegungen oder Dehnungen, Summen/ruhiges Tönen sowie verlässliche Routinen rund um Schlaf, Bewegung und Mahlzeiten können hilfreich sein. Yoga zeigt sich dabei als besonders wertvoll, da es mehrere somatische Übungen in einem vereint. Mehr über Yoga als körperbasierten Ansatz zur Emotionsverarbeitung liest du hier: Wie Bewegung heilen kann.
Falls du mehr über somatische Übungen lernen möchtest oder Hilfe brauchst, das geeignete Tool für dich zu finden, könnte psychologische Beratung hilfreich für dich sein.
Meine Gedanken dazu
Ich bin sehr froh, dass das Thema Nervensystem und somatische Übungen so viel Resonanz erfährt. Jahrzehntelang lag der Fokus in der Psychologie auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansätzen (KVT)*. Diese Ansätze zeigen eine starke Evidenzbasis, richten jedoch wenig Aufmerksamkeit auf den Körper.
In der traditionellen KVT geht es darum, dysfunktionale Denkmuster zu erkennen, neue Verhaltensweisen zu integrieren und alltagstaugliche Skills aufzubauen. Viele moderne Varianten der KVT (s.B. ACT, achtsamkeitsbasierte KVT) beziehen Körperwahrnehmungen und Emotionsregulation bereits vereinzelt mit ein.
Somatische Übungen zielen darauf ab, das ständige Intellektualisieren von Problemen loszulassen und stattdessen direkt mit den Gefühlen und dem Körper zu arbeiten. Durch somatische Ansätze werden Kopf und Körper als Einheit betrachtet. Die Arbeit mit dem Nervensystem zeigt also ein Verständnis dafür, dass Verarbeitung nicht nur auf kognitiver Ebene stattfinden muss, sondern auch auf körperlicher. Einfache somatische Skills können sowohl in akuten Stressmomenten als auch bei der Aufbereitung von alten Wunden und „festgehaltenen“ Emotionen eine wichtige Unterstützung bieten.
KVT-basierte Ansätze und somatische Ansätze ergänzen sich somit perfekt: Wenn der Körper zur Ruhe kommen kann, wird kognitive Arbeit leichter. Und wenn sich Gedanken und Verhalten zum positiven verändern, fällt es dem Körper schwerer, in alte Alarmmuster zurückzurutschen. Deswegen sollten diese Ansätze nicht separat voneinander gesehen werden.
Die Schattenseiten des Nervensystem-Regulation-Trends?
Ja, es ist erstrebenswert ein „reguliertes“ Nervensystem zu haben, aber es sollte nicht dein Leben bestimmen. Wenn du anfängst, alle Situationen zu meiden, die deinen Herzschlag hochtreiben könnten, dann vermeidest du auch die Dinge, die essenziell für dein persönliches Wachstum sind. Ein gesundes System ist nämlich kein System, das immer ruhig ist, sondern eins, das flexibel ist. Es fährt hoch, wenn du vor einer Herausforderungen stehst und fährt runter, wenn sie vorbei ist. Stress hat einen schlechten Ruf, aber akuter Stress ist nicht das Problem. Chronischer, anhaltender Stress ist das, was langfristig zu Problemen führt. Entscheidend sind nämlich nicht kurzfristige Unanehmlichkeiten, sondern Gefühle, die stagnieren und über Monate oder Jahre nicht verarbeitet werden.
Statt alles Unangenehme zu vermeiden, wende dich dem schwierigen Gefühl zu und lass es da sein. Unterstütze dann deinen Körper dabei, sich wieder zu entspannen.
Nervensystem-Arbeit heißt nicht, schwierige Gefühle zu vermeiden, sondern sie durch bewusstes Wahrnehmen zu verarbeiten und deinen Körper anschließend zurück in ein Sicherheitsgefühl zu begleiten.
Brauchst du Unterstützung beim Umgang mit schwierigen Gefühlen?
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